Anspruch auf rechtliches Gehör

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs ist durch Artikel 29 Absatz 2 BV und Artikel 6 Paragraf 1 EMRK garantiert und in Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe c sowie Artikel 107 StPO ausdrücklich festgehalten. Die Verfahrensparteien haben absoluten und bedingungslosen Anspruch auf rechtliches Gehör. Allerdings können sie ausdrücklich oder stillschweigend auf ihren Anspruch verzichten, beispielsweise wenn das Verhalten der betroffenen Person klar zeigt, dass sie auf ihren Anspruch verzichtet (vgl. BGE 137 IV 33, E. 9.2). Gemäss Artikel 3 Absatz 2 StPO ergibt sich der Anspruch auf rechtliches Gehör aus der Achtung der Menschenwürde.

Artikel 107 StPO präzisiert diesen Anspruch und nennt einige zentralen Rechte, die das rechtliche Gehör gewährleisten. Aufgrund seiner formellen Natur führt jede Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zur Aufhebung der jeweiligen Rechtshandlung. Allerdings kann gemäss Rechtsprechung eine höhere Instanz mit gleicher Prüfungsbefugnis wie die untergeordnete Instanz bestimmte minderschwere Verletzungen korrigieren (Kuhn/Jeanneret, S. 52; Moreillon/Parein-Reymond, S. 27–28; vgl. BGE 108 Ia 293; BGE 101 Ia 292; BGer 6B_562/2011, E. 3.4; BGE 137 I 195, E. 2.3.2; BGE 137 IV 118, E. 2.2).

Wie alle Grundrechte kann auch der Anspruch auf rechtliches Gehör eingeschränkt werden, allerdings nur unter strikter Einhaltung des Verhältnismässigkeitsprinzips nach Artikel 108 StPO und weiteren Bestimmungen des StPO (z. B. Art. 152–154 StPO). Die Einschränkungen des rechtlichen Gehörs durch die Parteien müssen Gegenstand eines schriftlich begründeten, im Sinne von Artikel 393 StPO anfechtbaren Beschlusses sein (Kuhn/Jeanneret, S. 53–55).

Nachfolgend einige Teilaspekte des Anspruchs auf rechtliches Gehör:

Anspruch auf rechtliches Gehör

Art. 3 Abs. 2 Bst. c StPO
Art. 107 und 108 StPO

Recht auf Information

Art. 118 Abs. 4 StPO und Art. 305 StPO

Die Verfahrensparteien haben das Recht, über ihre Rechte und über die Stellungnahmen der anderen Parteien sowie der beteiligten Strafbehörden informiert zu werden.

(vgl. BGE 101 Ia 292)

Recht auf Äusserung

Die Parteien haben das Recht, sich zu allen fallrelevanten Elementen zu äussern, und das Recht, dass die Behörden ihre Argumente vor der Beschlussfindung angemessen berücksichtigen.

(vgl. BGE 101 Ia 292)

Recht auf Akteneinsicht

Art. 101 Abs. 1 StPO und Art. 107 Abs. 1 Bst. a StPO

Solange die Untersuchung nicht abgeschlossen ist und die Akten nicht ans zuständige Gericht übergeben wurden, handelt es sich nicht um ein absolutes Recht. Mit Ausnahme der Bestimmungen nach Artikel 108 und Artikel 225 Absatz 2 StPO verfügt die Klägerschaft über die gleichen Rechte zur Akteneinsicht wie die beschuldigte Person (Grundsatz der Waffengleichheit).

(vgl. BGE 138 IV 78, E. 3 und BGE 137 IV 172 E. 2.6)

Recht auf Beweiserhebung und auf Beteiligung an der Beweiserhebung

Die Parteien haben das Recht, stichhaltige Beweise zu liefern, Beweismittel vorzuschlagen, sich an der Beweiserhebung zu beteiligen und über deren Ergebnis zu befinden.

(vgl. BGE 143 IV 380, E. 1.1 und 1.4; BGE 126 I 15, E. 2a)

Recht auf Protokollierung

Art. 76–79 StPO

Die Parteien haben das Recht, dass die relevanten Erklärungen der Behörden und Parteien in einen Protokoll festgehalten werden.


(vgl. BGE 126 I 15, E. 2a)

Recht auf einen begründeten Entscheid

Art. 80–82 StPO

Der begründete Entscheid erlaubt es den Parteien, den Entscheid nachzuvollziehen und gegebenenfalls bei der Beschwerdeinstanz Beschwerde einzulegen.

(vgl. BGE 139 IV 179, E. 2.2)

Recht, sich vertreten zu lassen

Art. 107 Abs. 1 Bst. c StPO und 127 StPO

Die Parteien haben das Recht, zur Wahrung ihrer Interessen einen Rechtsbeistand beizuziehen. Unter Vorbehalt der geltenden kantonalen Bestimmungen (z. B. Anwaltsrecht) und abgesehen von der beschuldigten Person kann die Privatklägerschaft auch eine andere Person als eine Anwältin oder einen Anwalt als Rechtsbeistand wählen.

Recht auf Übersetzung

Dieses Recht betrifft eher die beschuldigte Person.
Es besteht kein Anspruch auf die schriftliche Übersetzung sämtlicher Verfahrenshandlungen, sondern darauf, dass der beschuldigten Person der wesentliche Inhalt der wichtigsten Verfahrenshandlungen mündlich oder schriftlich zur Kenntnis gebracht wird.