Fragestellungen in Zusammenhang mit der fahrenden Lebensweise

Sowohl Schweizer als auch ausländische Staatsangehörige mit fahrender Lebensweise sind Diskriminierungen ausgesetzt. Der Rechtsratgeber fokussiert auf die Situation von Schweizer Staatsangehörigen, namentlich der Jenischen und Sinti. Einige der im Folgenden erläuterten Themenbereiche betreffen aber auch Jenische, Sinti/Manouches, Roma oder andere Personengruppen, die eine fahrende Lebensweise praktizieren und EU-Staatsangehörige sind, da diese Im Rahmen der Personenfreizügigkeit das Recht haben, in der Schweiz zu fahren und zu arbeiten. Auf Nicht-EU-Bürgerinnen und Bürger sind die nachstehenden Ausführungen nur teilweise anwendbar.

Hintergrundinformationen zur Reisendengewerbebewilligung für Bürgerinnen und Bürger aus der europäischen Union EU oder der Europäischen Freihandelszone EFTA

Die ungenügende Anzahl Halteplätze erschwert die fahrende Lebensweise. So hat laut der vom Bund geschaffenen und getragenen Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende» die Anzahl Halteplätze in den letzten Jahren ab- anstatt zugenommen. Es bestehen aber auch Schwierigkeiten bei Wohnsitzfragen, Sozialversicherungen oder beim obligatorischen Schulbesucht der Kinder. Zudem sind fahrende Personen aufgrund ihrer Lebensweise und teilweise auch aufgrund ihres Aussehens vermehrter Polizeikontrolle ausgesetzt. Bei ausländischen Sinti und Roma spielt auch der Aufenthaltsstatus eine Rolle. Eine Polizeikontrolle aufgrund von persönlichen Merkmalen wie Herkunft, Hautfarbe und Religion ohne konkreten und individuell objektiven Grund ist rechtswidrig (racial profiling).

Der Bund hat 1998 das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten ratifiziert. Dabei handelt es sich um ein rechtlich verbindliches multilaterales Abkommen des Europarats, das Grund- und Menschenrechte für nationale Minderheiten garantiert. Mit dem Beitritt anerkannte die Schweiz die Schweizer «Fahrenden» («gens du voyage») als nationale Minderheit; 2001 präzisierte der erste Bericht der Schweiz, dass im Rahmen des Abkommens unter «Fahrende» Schweizer Jenischen, Sinti und Manouches gemeint sind, unabhängig davon ob sie fahrend oder sesshaft sind. 2016 bekräftigte Bundesrat Alain Berset, der Forderung nach Selbstbezeichnung nachzukommen und Jenische und Sinti so zu nennen, wie sie sich selber nennen. Art. 8 Abs. 2 BV schreibt vor, dass niemand wegen seiner Lebensform diskriminiert werden darf. Zudem ergeben sich die für Personen mit fahrender Lebensweise einschlägigen Rechte auch aus dem Schutz der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und dem Schutz der Privatsphäre und der Wohnungsfreiheit (Art. 13 BV, Art. 8 EMRK).

Erläuterung

Art. 8 BV – Rechtsgleichheit

1 Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
2 Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.

3 Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.
4 Das Gesetz sieht Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten vor.

Kommentar

Um gegen rassistische Diskriminierung vorzugehen, sind das allgemeine Rechtsgleichheitsgebot (Abs. 1) und das allgemeine Diskriminierungsverbot (Abs. 2) von Bedeutung. Sie stellen einklagbare verfassungsmässige Rechte dar, auf die sich alle natürlichen Personen (Privatpersonen) unabhängig von ihrer Staatszugehörigkeit berufen können. Auf das allgemeine Gleichheitsgebot (Abs. 1) können sich auch juristische Personen (Unternehmen wie etwa Kapitalgesellschaften, Vereine, Stiftungen, etc.) stützen.

Art. 8 BV bezieht sich auf sämtliche staatliche Ebenen (Bund, Kantone, Gemeinden und andere Verwaltungsträger) und umschliesst sowohl die Rechtssetzung als auch die Rechtsanwendung. Die Regelung bindet allerdings nur den Staat und ist nur sehr beschränkt unter Privaten anwendbar.

Die Rechtsgleichheit nach Abs. 1 gilt nicht absolut. Eine Ungleichbehandlung kann gerechtfertigt und zulässig bzw. sogar geboten sein, wenn sachliche Gründe vorliegen. So sieht zum Beispiel die Sozialhilfe je nach Aufenthaltsstatus ungleiche Leistungen vor.

Das Diskriminierungsverbot nach Abs. 2 stellt ein «besonderes Gleichheitsgebot» dar und bildet eine Art Kerngehalt von Art. 8 BV. Für eine Ungleichbehandlung aufgrund der genannten Merkmale wird eine qualifizierte Rechtfertigung verlangt. Das bedeutet, dass die Ungleichbehandlung im öffentlichen Interessen liegen und verhältnismässig sein muss (vgl. analog Art. 36 BV). Das Verbot setzt keine Diskriminierungsabsicht voraus und schliesst sowohl direkte als auch indirekte Diskriminierungen mit ein.

Erläuterung

Indirekte/mittelbare Diskriminierung

Indirekte oder mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn gesetzliche Grundlagen, Politiken oder Praktiken trotz ihrer augenscheinlichen Neutralität im Ergebnis zu einer nicht zulässigen Ungleichbehandlung führen.

Laut Bundesgericht ist «eine indirekte bzw. mittelbare Diskriminierung […] dann gegeben, wenn eine Regelung, die keine offensichtliche Benachteiligung von spezifisch gegen Diskriminierung geschützter Gruppen enthält, in ihren tatsächlichen Auswirkungen Angehörige einer solchen Gruppe besonders stark benachteiligt, ohne dass dies sachlich begründet wäre.» (BGE 129 I 217 E. 2.1 S. 224).

Erläuterung

Direkte/unmittelbare Diskriminierung

Das Bundesgericht spricht von direkter Diskriminierung, wenn «eine Person rechtsungleich behandelt wird allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, welche historisch und in der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit tendenziell ausgegrenzt oder sonst als minderwertig behandelt wurde. Die Diskriminierung stellt eine qualifizierte Art der Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen dar, indem sie eine Benachteiligung eines Menschen bewirkt, die als Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie an ein Unterscheidungsmerkmal anknüpft, das einen wesentlichen und nicht oder nur schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betreffenden Person ausmacht; insofern beschlägt die Diskriminierung auch Aspekte der Menschenwürde.» (erstmals in BGE 126 II 377 E. 6a S. 392 f.).

Direkte bzw. unmittelbare Diskriminierung ist von einer «Ungleichbehandlung» zu unterscheiden, die aufgrund von zulässigen Kriterien oder Gründen erfolgt.

Die Aufzählung der Merkmale in Abs. 2 ist nicht abschliessend. Mit Herkunft ist die identitätsprägende geografische, ethnische, nationale oder kulturelle Herkunft einer Person gemeint. Unterscheidungen nach dem Bürgerrecht richten sich in erster Linie nach Abs. 1. Unter dem heute im europäischen Raum veraltet wirkenden Begriff Rasse werden Merkmale wie Hautfarbe oder Abstammung subsumiert. Die Merkmale Sprache und Überzeugung sind in weiteren Artikeln zusätzlich geregelt (Sprachenfreiheit Art. 18 BV, Glaubens- und Gewissensfreiheit Art. 15 BV sowie Meinungs- und Informationsfreiheit Art. 16 BV).

Das Kapitel «Fragestellungen in Zusammenhang mit der fahrenden Lebensweise» wurde von Simon Röthlisberger (Geschäftsführer der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende) und Viktor Györffy (Anwalt, Zürich) im Auftrag der Fachstelle für Rassismusbekämpfung erstellt.

Hauptsächliche Diskriminierungsvorkommen