Die nachfolgenden Beratungsschritte werden aus Gründen der Darstellung chronologisch aufgeführt. Es versteht sich aber von selbst, dass in der konkreten Beratungssituation jeweils gewisse Aspekte mehr im Fokus stehen als andere, und dass die einzelnen Fragestellungen ineinander übergreifen können.
Fragen-Schema zur Rolle des Rechts in der Rassismusberatung
1. Den subjektiv erlebten Vorfall anerkennen und den Beratungsbedarf klären
- Bestärken Sie die Betroffenen, aus ihrer Perspektive zu erzählen, damit ein offenes Gespräch möglich wird. Sichtweisen von Betroffenen werden in Auseinandersetzungen oftmals weniger beachtet, wenn sie einer gesellschaftlichen Minderheit angehören und von den Positionen der gesellschaftlichen Mehrheit abweichen. Dies ist eine Erfahrung, welche prägt und das Sprechen über Diskriminierung häufig schwierig und emotional macht. Oft geht es in der Beratung in erster Linie nicht um eine sachliche Klärung der Frage, ob eine Diskriminierung im juristischen Sinne vorliegt, sondern um die persönliche Aufarbeitung eines subjektiv als diskriminierend empfundenen Vorfalls.
- Gehen Sie ohne vorgefasste Meinung vom Bedarf der ratsuchenden Person aus. Eine Beratung kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie adäquat auf die Fragen eingeht, welche die betreffende Person tatsächlich beschäftigen. Umso wichtiger ist es, genügend Zeit aufzuwenden, um zuzuhören und die Fragen bzw. den Beratungsbedarf der Person richtig zu verstehen.
- Halten Sie den «Radar» offen für potentielle Mehrfachdiskriminierungen. Liegt beispielsweise auch eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vor, könnte es zielführender sein, möglichst rasch eine diesbezüglich spezialisierte Beratung einzuschalten bzw. die (allenfalls besseren) rechtlichen Instrumente im Bereich der Geschlechtergleichstellung zu nutzen.
2. Faktische Fragen klären
Zu jedem Erstgespräch gehört die Klärung der Fakten:
- Was ist genau passiert, wann und wo? Gibt es eine Vorgeschichte vor dem erwähnten Vorfall?
- Wer war direkt beteiligt?
- Wer hat den Vorfall beobachtet? Wer kann Angaben zum Vorfall bestätigen?
- Was wurde bereits unternommen? Welche Stellen und/oder Personen sind involviert oder müssten beigezogen werden?
Wenn die ratsuchende Person dies nicht bereits getan hat, werden die Antworten im Gespräch schriftlich festgehalten. Denn diese dienen als Grundlage für das allfällige weitere rechtliche Vorgehen.
3. Erste Objektivierung und Qualifizierung eines Vorfalls als rassistisch diskriminierend
Folgende Prüfung der Diskriminierungskriterien dient der besseren Einschätzung der rechtlichen Relevanz eines Vorfalls. Je nach Bedarf kann sie im Gespräch mit der ratsuchenden vorgenommen werden:
- Fand eine Ungleichbehandlung statt, die sich für die betroffene Person nachteilig auswirkte? Oder wird eine Person gleichbehandelt, obwohl sich ihre Lebenssituation in wichtigen und relevanten Punkten von derjenigen der Referenzgruppe unterscheidet?
- Erfolgte die Benachteiligung aufgrund eines sensiblen persönlichen Merkmals wie Hautfarbe, Herkunft, Religionszugehörigkeit, fahrende Lebensweise?
- Liegt allenfalls eine Mehrfachdiskriminierung vor, zum Beispiel aufgrund der Herkunft in Verbindung mit Behinderung, Geschlecht oder Alter?
- Gibt es legitime, sachliche Gründe oder Ziele für die Ungleichbehandlung? Und ist die erfolgte Ungleichbehandlung ein geeignetes, erforderliches und zumutbares Mittel, um dieses Ziel zu erreichen?
Auch eine rechtlich zulässige Ungleichbehandlung kann von der ratsuchenden Person oder von der beratenden Person als gesellschaftliche und/oder strukturelle Diskriminierung erlebt bzw. beurteilt werden; es ist wichtig, dies im Gespräch anzuerkennen.
4. Klärung der Handlungsoptionen
Aufgrund einer ersten Einschätzung der Situation müssen die verschiedenen Vorgehensmöglichkeiten auf ihre Chancen und Risiken geprüft werden. Ziel ist, dass die ratsuchende Person über alle nötigen Informationen verfügt, um das für sie beste Vorgehen zu wählen.
Erläuterung
Strukturelle Diskriminierung
Im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff der strukturellen Diskriminierung eine in der gesellschaftlichen Organisation begründete und historisch gewachsene Ausgrenzung und Benachteiligung von einzelnen Gruppen, welche als «normal» hingenommen und deshalb auch nicht zwingend wahrgenommen oder hinterfragt wird. So wurde es beispielsweise viele Jahre als „natürlich“ wahrgenommen, dass typische «Frauenberufe» schlechter entlöhnt werden.
Erläuterung
Mehrfachdiskriminierung / Intersektionelle Diskriminierung
Mehrfachdiskriminierung liegt dann vor, wenn eine Person gleichzeitig aufgrund von mehreren verpönten Merkmalen diskriminiert wird (z.B. aufgrund von physiognomischen Merkmalen oder religiöser Zugehörigkeit und aufgrund des Geschlechts, der sozialen Schichtzugehörigkeit, einer Behinderung oder eines anderen Merkmals).
Bei intersektionellen Formen der Diskriminierung interagieren verschiedene Ausgrenzungsformen in einer Weise miteinander, die eine spezifische Betroffenheit erst hervorbringt. So kann sich beispielsweise eine rassistische Handlung gegenüber einer Frau auf sexistische Weise manifestieren, oder umgekehrt die mit einer sexistischen Absicht verbundene Handlung rassistisch begründet werden.
Siehe dazu auch das Factsheet zur Mehrfachdiskriminierung des SKMR: https://www.skmr.ch/de/themenbereiche/geschlechterpolitik/publikationen/factsheet-zur-mehrfachdiskriminierung.html
Erläuterung
Mehrfachdiskriminierung / Intersektionelle Diskriminierung
Mehrfachdiskriminierung liegt dann vor, wenn eine Person gleichzeitig aufgrund von mehreren verpönten Merkmalen diskriminiert wird (z.B. aufgrund von physiognomischen Merkmalen oder religiöser Zugehörigkeit und aufgrund des Geschlechts, der sozialen Schichtzugehörigkeit, einer Behinderung oder eines anderen Merkmals).
Bei intersektionellen Formen der Diskriminierung interagieren verschiedene Ausgrenzungsformen in einer Weise miteinander, die eine spezifische Betroffenheit erst hervorbringt. So kann sich beispielsweise eine rassistische Handlung gegenüber einer Frau auf sexistische Weise manifestieren, oder umgekehrt die mit einer sexistischen Absicht verbundene Handlung rassistisch begründet werden.
Siehe dazu auch das Factsheet zur Mehrfachdiskriminierung des SKMR: https://www.skmr.ch/de/themenbereiche/geschlechterpolitik/publikationen/factsheet-zur-mehrfachdiskriminierung.html
In den meisten Fällen empfiehlt es sich, parallel zur Erarbeitung von alternativen Handlungsstrategien eine detaillierte Analyse der rechtlichen Situation vorzunehmen oder vornehmen zu lassen. Dies insbesondere, um erste dringenden Massnahmen einleiten zu können (wie etwa die Abklärung, ob eine Busse bezahlt werden muss oder nicht) oder allfällige Fristen einzuhalten, falls sich die betroffene Person für den Rechtsweg entschiedet.
In der Regel stehen nach einem rassistisch diskriminierenden Vorfall folgende Optionen zur Wahl:
- Meldung: die Person möchte keine weiteren Schritte unternehmen, sondern die Situation einfach nur melden und in ihrer Wahrnehmung ernst genommen werden. Falls die Beratungsstelle die Meldung nicht selbst entgegennehmen kann, muss sie das Einverständnis der Person einholen, den Fall (gegebenenfalls anonymisiert) an die zuständige Stelle weiter zu melden.
- Direkte Klärung: die Person möchte selber oder mit Unterstützung ihres Umfelds oder der Beratungsstelle die Konfrontation oder die Aussprache mit den Beteiligten suchen. Wichtig ist, dass dies in einem Rahmen stattfindet, welcher der betroffenen Person die nötige Sicherheit garantiert und das allfällige Machtgefälle nicht verstärkt.
- Konfliktlösungsprozess mit Einbezug der implizierten Institution. Wird ersichtlich, dass eine direkte Klärung nicht möglich ist oder keine Aussicht auf Veränderung verspricht, kann der Lösungsprozess um eine Stufe «nach oben» verschoben werden. Das bedeutet, dass z.B. der Vorgesetzte des diskriminierenden Kollegen oder Vorgesetzten, oder die Schulleitung der diskriminierenden Lehrerin angegangen wird. Auch hier gilt es, dem allfälligen Machtgefälle Rechnung zu tragen und darauf zu achten, dass der Gesprächsrahmen den Respekt aller Beteiligten gewährleistet. Bei diesem Vorgehen ist überdies wichtig, alle weiteren beteiligten Stellen von Beginn weg einzubeziehen.
- Vermittlungsprozess mit Unterstützung einer dafür zuständigen Stelle. Falls es für die konkrete Fragestellung und im betreffenden Ort eine Ombuds- oder sonstige Schlichtungsstelle gibt, ist es sinnvoll, diese möglichst rasch einzubeziehen.
- Mediation: eine eigentliche Mediation bietet sich dann an, wenn die Diskriminierungssituation von einer gewissen Tragweite und Dauer ist, die rechtlichen Risiken für beide Seiten in etwa ausgewogen sind und die Bereitschaft der Parteien besteht, sich auf einen relativ aufwändigen Prozess einzulassen.
- Beschreitung des Rechtswegs bzw. vorgängige Ausschöpfung der aussergerichtlichen Schlichtungsmöglichkeiten: für eine erste Einschätzung der Rechtslage kann der Online-Rechtsratgeber beigezogen werden. Falls die Beratungsstelle nicht über juristische Kompetenzen verfügt, muss aber bereits in dieser Phase eine juristische Fachperson beigezogen werden.
5. Triage
Hinter dem kurzen Begriff «Triage» versteckt sich ein Koordinationsprozess, dessen Komplexität und Ressourcenbedarf gerne unterschätzt wird. Funktioniert die Triage nicht, ist auch der Zugang zur Beratung und zum Recht nicht gewährleistet.
Der Triageprozess geht in zwei Richtungen: einerseits müssen nicht spezialisierte Anlaufstellen und Regelstrukturen in der Lage sein, potentielle rassistische Diskriminierung zu erkennen und die davon betroffene Person an eine dafür spezialisierte Beratung zu verweisen.
Andererseits müssen die spezialisierten Beratungsstellen für Opfer von Diskriminierung wissen, wohin sie eine Person weiter verweisen können, wenn deren Anfrage ihr Beratungsmandat übersteigt. Dies bedingt, dass die Beratungsstelle über ein klares Angebotsprofil verfügt (welche Leistungen können sie erbringen und welche nicht?), die weiterführenden Angebote kennt und die zur Koordination nötige Zusammenarbeit mit ihnen pflegt. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen ist Teil eines qualitativ guten Beratungsangebots. Zentral für eine wirksame Triage ist, dass die Verantwortlichkeiten für die weitere Fallführung klar festgelegt sind und ratsuchende Personen nicht einfach «abgeschoben» werden.
6. Fallerfassung und -meldung
Mit der Erfassung und Meldung von rassistischen Vorfällen wird rassistische Diskriminierung dokumentiert und damit sichtbar. Zudem sind die meisten Beratungsstellen im Rahmen ihres Auftrags dazu angehalten, ihre Fälle auszuweisen und zu dokumentieren (z.B. als Teil des Leistungsvertrags und als Element der Qualitätssicherung). Im sensiblen Bereich der rassistischen Diskriminierung müssen ratsuchende Personen sicher sein können, dass ihre Daten vertraulich behandelt und nur mit ihrem Einverständnis weiter geleitet oder verwendet werden. Die Frage der Dossierführung und der Vertraulichkeit der Daten ist für das Funktionieren einer Beratungsstelle zentral und muss intern formal geregelt und gegen aussen transparent kommuniziert werden.
Auch wenn keine weiteren Schritte unternommen werden, ist ein von den Beratenden als rassistisch diskriminierend eingestufter Vorfall bei der jeweiligen Meldestelle zu melden (wenn die Beratungsstelle nicht selber als Meldestelle für die Datensammlung DoSyRa des Beratungsnetzwerks für Rassismusopfer fungiert). Wo keine Meldestelle vorhanden ist, kann der Vorfall auch der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus weiter geleitet werden.